Um Lesezeit zu ersparen, nehme ich die Antwort schon mal vorweg: Nein !
Der Schwierigkeitsgrad eines Canyons ist am ehesten mit einer Fotografie vergleichbar. Er gibt den Zustand zu einem bestimmten Moment an. Ein paar Tage vorher oder nachher kann alles ganz anders aussehen.
Im Zusammenhang mit Schwierigkeit spreche ich vor allem von aquatischen Canyons, da Wasser für mich eine der Hauptgefahren darstellt. Hohe Abseilstellen halte ich für weniger „gefährlich“. Wohlgemerkt muss man aber auch dort sein Handwerk beherrschen.
Die Nachlässigkeiten und damit potentielle Gefahren, die ich vor einigen Tagen auf einer „einfachen“ Tour sah, hatten mit einem gefährlichen Wasserstand allerdings wenig zu tun.
Ich war vor einigen Tagen in einem sogenannten Anfängercanyon unterwegs. Bei solchen Gelegenheiten finde ich es immer hochinteressant, andere Gruppen zu beobachten, um aus deren Verhalten zu lernen. Ich analysiere, was ich von ihnen übernehmen würde und was sicherlich nicht . Den Canyon kenne ich seit zig Jahren und hab diesen sicher über hundert Mal bei allen möglichen Wassertständen begangen.
Der Wasserstand war an diesem Tag perfekt und stellte keine Schwierigkeit dar. Dafür konnte ich aber viele weitere Schnitzer beobachten, die die Basis zu grösseren Problemen hätten legen können.
Einstieg verpasst
Am Parkplatz sah ich eine Gruppe zielstrebig auf einen Weg zusteuern, der deren Auffassung nach wohl zum Canyon führte. Wer diesen Weg nimmt, kommt weiter oben im Canyon raus und begeht einen nicht sonderlich interessanten Abschnitt. In den Alpes Maritimes sind die meisten Zustiege zu Canyons bestens ausgeschildert und markiert. Für diese Gruppe war das 2m x 1m grosse Schild wohl doch noch zu klein.
Ich ziehe immer die öffentliche und damit bewährte Zustiegsroute vor, um Zusatzrisiken zu vermeiden. Sonst kommt man zum „einfachen“ Canyon vielleicht erst gar nicht hin.
Ausrüstung vergessen
Im Canyon traf ich dann einen Führer, der seinen Neoprenanzug im auf dem Ausstiegsparkplatz stehenden Fahrzeug vergessen hat. Unter den gegebenen Umständen und wenn die Tour ohne Probleme verläuft, kommt man auch ohne Neoprenanzug gut (aber erfrischt) durch die Tour. Was aber wenn was schief läuft. Schnell kann man sich den Fuss vertreten, ausrutschen … die Liste kann beliebig verlängert werden. Und schon wird ein „einfacher“ Canyon zum Problem.
Ausrichtung des Karabiners
Im Canyon gibt es recht enge Sprungstelle. Um Gästen den Weg dahin abzusichern, bauen die meisten Führer ein Geländerseil auf. Darin klinken sich die Gäste dann mit dem Karabiner der Sicherheitsleine ein und folgen dem Seilverlauf, bis sie beim Absprungpunkt ankommen.
Allerdings haben alle Gäste des Führers die Karabiner so ins Geländerseil eingeklinkt, dass die Öffnung zum Fels zeigte (und dort auflag). An der Stelle nicht sehr kritisch, aber man kann davon ausgehen, dass der Führer in anderen Canyons genauso vorgeht – und dann könnte es gravierendere Auswirkungen haben.
Führer ohne Helm
Als wir etwa die Hälfte der Tour hinter uns gebracht hatten, tauchte plötzlich ein Führer mit seiner Gruppe auf. Eine Gruppe, die ich gerne „Testosterongruppe“ bezeichne. Warum ? Weil die Teilnehmer kaum zu bändigen sind. Vier Teilnehmer sind vor dem Führer her gerannt, wovon einer in jeden Tümpel gesprungen ist. Der Führer gehörte zur ganz alten Garde, mit dem Nachteil, dass er in Sachen Helmpflicht wohl den Anschluss verpasst hat. Auch wenn man mehr Erfahrung mitbringt
- macht ein herabfallender Stein keinen Unterschied zwischen dem Kopf eines Führers oder dem eines Gastes;
- gibt der Führer ein sehr schlechtes Beispiel, was oft dazu führt, dass dessen Gäste bei künftigen selbständigen Touren dann auch keinen Helm tragen.
Der Vorteil dieses Führertyps ist, dass sie genauso schnell verschwunden sind, wie sie aufgetaucht sind. Die Gruppe hat den Canyon sicher in Rekordzeit geschafft.
Jahrelang habe ich im Rahmen meiner Ausbildertätigkeit mit Robert zusammen eine Art „Sicherheitskettensystem“ gelehrt. Umgangssprachlich sagt man oft: „Jede Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied“. Unsere Philosophie geht in diese Richtung.
Aus der Analyse hunderter Canyoningunfälle bin ich auf ein Konzept gestossen. Keiner dieser Unfälle basierte auf einem einzigen Grund. Eine Gruppe wird vielleicht von einer Welle erfasst und entsprechender Schaden angerichtet. Aber vorher wurde evtl. der Wetterbericht nicht eingeholt, die Gruppe war zu gross, das technische Niveau der Gruppe hat dem Canyon nicht entsprochen und und und.
Die Katastrophe ist also immer das Endprodukt einer Kettenreaktion ! Und sie ist meist das dritte Kettenglied, das explodiert.
Daraus lernen wir, dass man immer versuchen sollte, schon kein erstes schwaches Kettenglied zu haben. Anzug vergessen, falscher Einstieg, falsche Orientierung von Karabinern – das alles sind „erste Kettenglieder“.
Also immer schön aufmerksam bleiben und Nachläßigkeiten sofort ausmerzen – denn einfache Canyons gibt es nicht.